Die Politik der Buchstaben. Poetik und Theologie im alphabetischen Spiel

Stefanie Leuenberger

(Habilitationsprojekt)

„Kein Königspalast und kein Cottage eines Milliardärs hat ein Tausendstel der schmückenden Liebe erfahren, die im Laufe der Kulturgeschichte den Buchstaben zugewandt worden ist. Einmal aus Freude am Schönen und um sie zu ehren. Aber auch in listiger Absicht. Die Buchstaben sind ja die Säulen eines Tores, über dem ganz gut geschrieben stehen könnte, was Dante über den Pforten der Hölle las, und da sollte ihre rauhe Urgestalt die vielen Kleinen, die alljährlich durch dieses Tor müssen, nicht abschrecken.“ (Benjamin 1991d, S. 619)

Das Projekt richtet den Fokus auf Literatur, die die Buchstaben sprachspielerisch herausstellt und damit die alphabetische Ordnung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Die Ausgangsthese lautet, dass in zahlreichen dieser Texte die Arbeit mit dem Alphabet nicht als selbstreferentielle Reflexion über die Sprache und die Produktionsverfahren von Texten zu verstehen ist. Sie dient vielmehr der Auseinandersetzung mit der Sprache als einem der Ordnung der Dinge entsprechenden Zeichensystem und fragt nach dem Verhältnis von Sprache und Welt und nach den Möglichkeiten und Grenzen der poetischen Kraft des Menschen. Diskutiert wird damit das „Engagement“ der Literatur, die Rolle, die die jeweiligen literarischen und künstlerischen Avantgarden diesbezüglich einnehmen, das Problem der Repräsentation des Undarstellbaren, das Verhältnis von Geschichte, Erinnerung und Politik. Literatur, die auf diese spielerisch-ernsthafte Weise mit dem Alphabet umgeht, ist als transnationales, europäisches Phänomen zu sehen, das sich vom 17. bis zum 20. Jahrhundert beobachten lässt. Sie zeugt von der Dialektik der Säkularisierung und hat in der europäischen Neuzeit eine entscheidende historische, theologische und politische Signifikanz.

Die europäischen Literaturen seit der Antike weisen eine grosse Zahl von Spielformen auf, die die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Buchstaben lenken: etwa durch eine „contrainte“ bestimmte Texte wie das Leipogramm, Tautogramm, Anagramm, Pangramm, Akrostichon und Palindrom, sowie Figurengedichte, Lautgedichte und manche Formen der Konkreten Poesie. Gelesen werden diese Spiele – trotz des Wissens um die Bedeutung der Buchstaben und ihrer Kombinationen in Mystik und Magie – in der Forschung bis heute häufig als Zeichen des Manierismus und als semantisch leere Spielereien.

Das geplante Projekt möchte dieser Auffassung eine grundsätzlich andere Lesart entgegenstellen. Sie ist anhand der folgenden Thesen zu skizzieren:

1. Das ernste Spiel mit den Buchstaben dient der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von sprachlicher Ordnung und Weltordnung. Die kabbalistische Sprachtheorie verstand die Buchstaben als kosmologische Grundformen, durch deren Kombination die Schöpfung erfolgte. Somit wurde die Struktur der Sprache und der Schrift als metaphysische Struktur der Dinge angesehen, was die Möglichkeit einer magisch-produktiven Funktion der Sprache einschloss. Diese Vorstellungen blieben auch in der Moderne nach dem Zusammenbruch der metaphysischen Systeme prägend, und zwar insofern, als die Kombination und Permutation, die Verbindung oder Zerstreuung der Lettern in unterschiedlichen Zusammenhängen bis in die Gegenwart immer erneut durchgespielt wird. Sie dient der Reflexion über das poetisch-schöpferische wie auch das zerstörerische Potential des Menschen.

2. Die Auflösung der Buchstabenordnung, die manche Texte kennzeichnet, hat nicht nur die Funktion, die Rezipienten durch ihr Irritationsmoment aufzurütteln, sondern zeigt den Versuch, die bisherige Literatursprache in ihre kleinsten Bestandteile zu fragmentieren und damit zugleich die Ordnung eines überkommenen Systems gesellschaftlich-politischer Verhältnisse zu stören oder gar aufzuheben.

3. Alphabetisierte Texte entstehen häufig in Zeiten historischer Krisen. Sie thematisieren Verlust, Trauma und Zusammenbruch insofern, als diese Zerstörungsvorgänge an ihrer Struktur selbst sichtbar werden. Auf die Infragestellung, die Beschädigung, die Zerschlagung der Literatur folgt, wie zu zeigen ist, vom „Nullpunkt“ her ihr Wiederaufbau aus dem Spiel mit ihren kleinsten Elementen, den Buchstaben.

4. Sprachspiele mit dem Alphabet bringen oft mehrsprachige, polyphone Texte hervor und sind damit stets verbunden mit einer Reflexion über die eine Sprache und die Vielheit der Sprachen. Sie stehen im Zusammenhang mit der Frage nach der Konstituierung bzw. Restituierung einer nationalen (Literatur-)sprache und mit der Diskussion über Sprachpluralismus und Sprachpatriotismus, über eigene und ,fremde’ Sprache und damit über Inklusion und Exklusion von Gruppen und Individuen. Damit ermöglichen sie sowohl die Thematisierung der Spannung zwischen europäischem Nationalismus und Kosmopolitismus als auch des Verhältnisses von eigener und ,fremder’ Sprache im Zusammenhang mit Exil und Vertreibung, Migration und kulturellen Übersetzungsvorgängen.

Überprüft werden sollen diese Thesen an einem Textcorpus, dessen Studienfälle den europäischen Literaturen und der amerikanischen Literatur entnommen sind und schwerpunktmässig aus dem Barock, der Zeit um 1800, den Avantgarden der Moderne und der Nachkriegszeit stammen – Epochen, in denen Literatur entstand, die das Sprachspiel mit Reflexionen über die gesellschaftliche Wirklichkeit und die Situation des Individuums während oder nach einer tiefen Krise verbindet. Das Projekt kann so die politische und historische Funktion von vermeintlich solipsistischen Verfahren offen legen und die Bedeutung dieser Literatur entdecken.

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