Produktive Lektüre.
Thomas Manns Nachlassbibliothek

I. Kurzbeschreibung

Thomas Manns Nachlassbibliothek im Thomas-Mann-Archiv der ETH-Bibliothek Zürich umfasst mehr als 4000 Medien und stellt einen wichtigen Nachlassbestandteil dar (nähere Informationen finden Sie hier). Neben ihrer Bedeutung als Arbeitsinstrument des Literaturnobelträgers hat die Bibliothek selbst eine wechselvolle Geschichte, die sich in ihrer materiellen Vielfalt zeigt. Thomas Mann besaß im Laufe seines Lebens tausende von Büchern, die er von Verlagen sowie befreundeten Autorinnen und Autoren erhielt oder selbst erwarb. Dass er viele davon aufmerksam „mit dem Bleistift“ las, verleiht seiner Bibliothek ganz besonderen Wert. Auf Grundlage der An- und Unterstreichungen und der wissenschaftlich ebenso ergiebigen Marginalien kann die Forschung Thomas Manns Lektüren nachvollziehen und oft sogar Rekonstruktionen des Schreibprozesses vornehmen. Die Erforschung von Lese- und Bearbeitungsspuren, wie sie sich in Thomas Manns Nachlassbibliothek zeigen, stellt mittlerweile, so Claudine Moulin, eine „aufblühende Disziplin in einem übergreifenden kulturhistorisch-philologischen Spannungsfeld von Philologie, Kulturwissenschaft sowie Buch- und Bibliothekswissenschaft dar“.[1] Privatbibliotheken von Autorinnen und Autoren werden heute als signifikante Bestandteile von Nachlässen betrachtet und behandelt, und viele, so auch die Nachlassbibliothek Thomas Manns, harren noch der detaillierten Auswertung. Dieses Desiderat geht das ab Februar 2016 am Thomas-Mann-Archiv und an der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft von Prof. Dr. Andreas Kilcher angesiedelte Nationalfondsprojekt Produktive Lektüre an: Ziel ist die digitale Erfassung und Erschliessung der Stiftspuren, also der Marginalien, Besitzvermerke und Widmungen in Thomas Manns Nachlassbibliothek. Mit aktuellen und eigens an die Projektbedürfnisse angepassten technischen Mitteln werden die annotierten Bücher aus Manns Bibliothek digitalisiert, die Marginalien transkribiert, Lese- und Bearbeitungsspuren erfasst und durchsuchbar gemacht. Die Digitalisate und Transkriptionen stehen daraufhin im Lesesaal des Thomas-Mann-Archivs zur Verfügung und ergänzen die 2015 aufgeschaltete Archivdatenbank tma_online.

Das Projekt Produktive Lektüre will Aufschluss über Manns Quellen geben und zugleich einen gleichsam wissenspoetologischen Mehrwert erbringen, indem es vor Augen führt, wie Mann sich seine Quellen lesend anverwandelte. Die Verbindung von Lese- und Schreibprozess bei Thomas Mann wird damit anschaulich nachvollziehbar gemacht. Erarbeitet wird folglich ein Destillat der Autorenbibliothek, das viele bislang nicht wahrgenommene Stiftspuren erstmals erfasst, beschreibt und verfügbar macht. Zusätzlich werden die Bibliotheksbestände durch diese neue Zugänglichkeit am Bildschirm vor weiterer physischer Abnützung geschützt: Die Digitalisierung versteht sich auch als Beitrag zum Kulturgüterschutz.

Von Interesse sind insbesondere die von Thomas Mann in seinen Büchern hinterlassenen Marginalien. Als materialisierte Spur der Bibliotheksbenutzung steht die Marginalie paradigmatisch für den Schnittpunkt von Produktion und Rezeption, den dieses Projekt in den Blick nimmt. Das Projekt hat im Frühjahr 2016 mit der Erfassung der Bearbeitungsspuren in der Nachlassbibliothek begonnen. Hilfskräfte digitalisieren seitdem die mit Annotationen versehenen Bände vollständig im ETH-eigenen Digitalisierungscenter. Die Digitalisate werden einer OCR-Volltexterkennung unterzogen. Erfasst werden die fertigen Digitalisate sowie die dazugehörigen Informationen und Metadaten mittels Softwarelösungen, die bereits an der ETH-Bibliothek zum Einsatz kommen und für das Projekt Produktive Lektüre adaptiert wurden.

Ausgehend von den Plattformen externe Seite e-rara und externe Seite e-manuscripta wurde in Zusammenarbeit mit der ETH-Bibliothek eine multifunktionale digitale Präsentationsform der annotierten Bücher entwickelt: Die Benutzerinnen und Benutzer des Thomas-Mann-Archivs haben im Lesesaal nicht nur Zugriff auf Digitalisate der annotierten Texte, sondern können auch gezielt die transkribierten Marginalien und andere Bearbeitungsspuren durchsuchen. Das Projekt profitiert dabei nicht nur von der institutionellen Unterstützung der ETH-Bibliothek samt ihrem state-of-the-art-Digitalisierungscenter, sondern zusätzlich von Synergieeffekten, die sich mit dem vor Kurzem erfolgreich abgeschlossenen Digitalisierungsprojekt TMA_online ergeben.

II. Forschungsprojekte

Die digitale Erschliessung von Thomas Manns Nachlassbibliothek wird durch Forschungsprojekte ergänzt, die dem Vorhaben eine zusätzliche literaturwissenschaftliche und wissensgeschichtliche Komponente verleihen.

Manuel Bamert geht in einem theoretisch-methodologisch ausgerichteten Dissertationsprojekt der grundlegenden Frage nach, welches literaturwissenschaftliche Erkenntnispotential den Lesespuren in Thomas Manns Privatbibliothek zukommt. Der erste Teil der Dissertation zur Phänomenologie unterzieht die Begriffe und Definitionen der bisherigen Lesespurforschung einer kritischen Überprüfung und stellt diesen eine eigene Terminologie und Typologie gegenüber. Im zweiten Teil zur Epistemologie wird dargestellt, wie und aufgrund welcher Lektüreprozesse solche Lesespuren entstehen. Im dritten Teil zur Poetologie wird nach dem Stellenwert dieser Phänomene für die Untersuchung von Schreibprozessen sowie nach dem Status der Lesespuren innerhalb des Gesamtwerks gefragt – nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Thomas Manns Nachlassbewusstsein.

Anke Jaspers rekonstruiert die wechselvolle Geschichte der Nachlassbibliothek Thomas Manns von ihrer ersten Konstitution in München 1905 bis heute. Die Prozesse der Enteignung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933, die Emigration der Familie Mann und die Umzüge aus der Schweiz in die USA und wieder zurück haben den Bestand der Bibliothek nicht nur dezimiert, sondern auch ihre Spuren darin hinterlassen. Manches Buch war zeitweise nicht im Besitz Thomas Manns und gelangte erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in seine Hände oder konnte gar erst durch den Einsatz des Thomas-Mann-Archivs wiederbeschafft werden. Damit blieben auch der Bestand und seine Ordnung in einer stetigen Dynamik. Anhand von Exemplargeschichten zeichnet das Projekt zur Provenienz der Nachlassbibliothek diese Prozesse nach und legt dabei Sammlungs- und Bearbeitungspraktiken dar, die sich in der Materialität der Nachlassbibliothek widerspiegeln.

Martina Schönbächler befasst sich in einer exemplarischen Studie mit der grundlegenden These, dass Thomas Mann als ‚lesender Schreiber‘ zu verstehen ist. Entsprechend nah arbeitet ihre Dissertation an den Materialien von Manns Nachlassbibliothek. Inhaltlich stehen zwei Figurenkonzepte im Zentrum, auf deren diachrone Entwicklung seit den frühen Erzählungen Manns Gesamtwerk einerseits und auf deren diskursive synchrone Verflechtung der dritte Band von Manns Romantetralogie Joseph und seine Brüder andererseits befragt wird. Gerade die Arbeitsbücher und Materialien zur Josephs-Tetralogie sind trotz der wechselvollen Geschichte des Bestands beinahe vollständig in der ‚realen‘ Bibliothek erhalten geblieben, während die textuellen Bezüge des Frühwerks in die intertextuell zu rekonstruierende ‚virtuelle‘ Bibliothek führen.

 

 

 

[1] Claudine Moulin: Am Rande der Blätter. Gebrauchsspuren, Glossen und Annotationen in Handschriften und Büchern aus kulturhistorischer Perspektive, in: Autorenbibliotheken, Bibliothèques d’auteurs, Biblioteche d’autore, Bibliotecas d’autur, Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs 30/31 (2010), S. 19–26, hier S. 20.

 

 

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