Stifte am Werk. Phänomenologie, Epistemologie und Poetologie von Lesespuren am Beispiel von Thomas Manns Nachlassbibliothek

Dissertationsprojekt von Manuel Bamert
 

Zu Thomas Manns textuellem Nachlass gehört nicht nur Selbstgeschriebenes, sondern auch Selbstgelesenes. So wird im Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich neben Manuskripten unter anderem auch seine Privatbibliothek aufbewahrt, ein Konvolut von rund 4300 Büchern und weiteren Textdokumenten, die Thomas Mann einmal sein Eigen nannte.

Das Verarbeiten von Wissen durch Lektüretechniken wie Unterstreichen oder Annotieren sind gleichzeitig historisch und kulturell bedingte sowie individuell vollzogene Praktiken. Diesen Praktiken beziehungsweise ihren Spuren widmet sich derzeit ein Forschungsprojekt an der ETH Zürich. Dabei wird erstmals systematisch der gesamte Bestand von Thomas Manns Privatbibliothek auf Lesespuren untersucht, woraufhin alle Einheiten mit Lesespuren vollständig digitalisiert werden. Das Ziel dieses Forschungsprojekts ist die Erstellung eines digitalen Recherchetools, mit dem man gezielt nach diesen Lesespuren suchen kann.

Mit diesen technologischen Möglichkeiten kehren indes ungelöste theoretische und methodologische Fragen mit neuer Dringlichkeit zurück. Zwar wird Privatbibliotheken von Autorinnen und Autoren schon seit Langem ein beträchtlicher Wert zugeschrieben – unter anderem aufgrund der in ihnen befindlichen Lesespuren. Aber gerade für die so grundsätzliche Frage, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse diese Lesespuren überhaupt zulassen, hat sich noch kein Konsens ergeben.

Dieser Befund ist der Ausgangspunkt meines Dissertationsprojekts mit der zentralen Fragestellung: Welches literaturwissenschaftliche Erkenntnispotential kommt den Lesespuren in Thomas Manns Privatbibliothek zu? Geplant habe ich dabei den folgenden Aufbau: Zunächst gebe ich einen quellenkritischen Überblick über die Geschichte der Privatbibliothek Thomas Manns. Darauf folgt das Kernstück der Arbeit mit den drei Teilen zu PhänomenologieEpistemologie und Poetologie der Lesespuren. Im ersten Teil zur Phänomenologie unterziehe ich die Begriffe und Definitionen der bisherigen Lesespurforschung einer kritischen Überprüfung und stelle diesen eine eigene Terminologie und Typologie gegenüber, worauf eine formale Beschreibung und Einordnung der vorgefundenen Phänomene unternommen werden kann. Im zweiten Teil zur Epistemologie arbeite ich dann heraus, wie und aufgrund welcher Lektüreprozesse solche Lesespuren entstehen. Und im dritten Teil zur Poetologie frage ich schliesslich nach dem Stellenwert dieser Phänomene für die Untersuchung von Schreibprozessen sowie nach dem Status der Lesespuren innerhalb des Gesamtwerks – nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Thomas Manns Nachlassbewusstsein.

 

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