Kaleidoskopisch geschrieben

Thomas Manns ‚Gerda‘ als poetologisches Phänomen zwischen Bibliothek und Joseph in Ägypten

Dissertationsprojekt von Martina Schönbächler

Anhand einer Gegenüberstellung von Thomas Manns realer und virtueller Bibliothek sowie der darin aufzufindenden materiellen und immateriellen Lesespuren bietet die Studie einen praktischen Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Autorenbibliotheksforschung, eine poetologische Beobachtung von Manns Texten und die inhaltliche Analyse eines Musters von Gendering.

Ihr Untersuchungskorpus findet sie einerseits in der realen und der über den materiellen Bestand der Nachlassbibliothek hinausgreifenden virtuellen Bibliothek Thomas Manns, andererseits in der Gesamtheit seines textuellen Nachlasses, von der Marginalie bis zum gedruckten Werk. Während sich die Intertextualität und Interdiskursivität von Manns Texten in den annotierten Seiten der physischen Büchersammlung materialisieren, zeigt sich in der Diachronie von Manns Gesamttext dessen Poetologie. Es zeichnet sich in Text und Bibliothek eine Konzeption von Autorschaft ab, die sich zwischen den beiden Extremen romantischer Genieästhetik und autorloser Intertextualität ausrichtet.

Unter zeichentheoretischer Prämisse untersucht die Studie den Transfer von Sprachmaterial und narrativen Elementen sowie der diskursiven Versatzstücke, die von diesen textuellen Elementen von Text zu Text – aus der Bibliothek in Manns frühe Erzählungen und über seine faktualen Texte bis in den ersten Exil-Roman Joseph in Ägypten (1936) – transportiert werden. Auf der Vorlage verschiedener Hypotexte (Beispiele sind Joseph von Eichendroffs Das Marmorbild und Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz) lässt sich so in Manns frühen Erzählungen ein Komplex textueller Komponenten (‚Gerda‘) ausmachen, der in Manns Texten immer wieder ähnlich in Erscheinung tritt; ebenso das Narrativ einbrechender Leidenschaft, das im Forschungsdiskurs unter dem Stichwort der ‚Heimsuchung‘ beobachtet wird.

Der Romantext Joseph in Ägypten kodiert auf der Folie der Novelle Der kleine Herr Friedemann (1897) diese früh etablierten Muster – ‚Gerda‘ und die ‚Heimsuchung‘ – im Feld der Geschlechterpolarisierung um. Joseph in Ägypten leistet damit anhand der erstmaligen ‚Heimsuchung‘ einer weiblichen Figur ein zweifaches Angebot für die Verkörperung des ‚Deutschen‘: Potiphars Frau Mut-em-enet und die Goethe-Inkarnation Joseph. Weiblich respektive männlich sexuiert, können so eine faschistische neue und eine aus früheren Texten bekannte alte Vorstellung von Deutschland eindeutig negativ respektive positiv besetzt werden. Insofern, als er eine androgyne Vorstellung von Idealmenschlichkeit propagiert, entwirft der Roman damit ein zugleich inklusives Gesamtbild von Deutschland, das die in der Zeit des deutschen Faschismus gefährdete Identifikation mit der Idee des Deutschen wieder erlaubt.

Die Dissertation entstand in Kooperation mit dem Thomas-Mann-Archiv im Rahmen des SNF-Forschungsprojekts „Produktive Lektüre. Thomas Manns Nachlassbibliothek“ an der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft der ETH Zürich.

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