„Kryptophilologie.“ Jonas Fränkels „unterirdische Wissenschaft“ im historischen und politischen Kontext
Das Forschungsprojekt im Schnittfeld von Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung widmet sich dem jüdischen Philologen Jonas Fränkel, dessen umfangreicher Nachlass und Bibliothek jüngst zugänglich gemacht wurde. Es erfolgt in Zusammenarbeit der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich mit dem Schweizerischen Literaturarchiv in Bern und dem Walter Benjamin-Kolleg an der Universität Bern.
Forschungsleitung an der ETH Zürich: Prof. Dr. Andreas Kilcher
Forschungsleitung an der Universität Bern: PD Dr. Irmgard Wirtz
Jonas Fränkel – geboren 1879 in Krakau, gestorben 1965 bei Thun – war ein herausragender Schweizer Literaturwissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Nach ersten Studien in Wien, wanderte er um 1900 in die Schweiz ein und setzte sein Studium in Bern fort, wo er promovierte, sich habilitierte und 1921 ausserordentlicher Professor für deutsche Literatur wurde. Er trat als Herausgeber von Werken und Briefen deutschsprachiger Schriftsteller hervor, unter ihnen Goethe, Heine, Gottfried Keller und Carl Spitteler. Und er verfasste grundsätzliche wissenschaftliche und politische Texte über Philologie. Während seiner jahrzehntelangen, äusserst produktiven Arbeit als Literaturwissenschaftler in der Schweiz stand er mit einer Vielzahl bedeutenden Schriftstellern und Wissenschaftlern in Kontakt.
Allerdings war seine wissenschaftliche Arbeit vor allem nach 1933 in einem historisch-politischen Kontext situiert, der ihn – als jüdischer Wissenschaftler – zunehmend beeinträchtigte. So bereitete er von 1923 bis 1939 einen Grossteil der 22 Bände der ersten kritischen Edition der Werke Gottfried Kellers zum Druck vor. Als er 1939 in seiner Schrift Gottfried Kellers politische Sendung Kritik am Nationalsozialismus übte, sorgten sich die Verleger der Keller-Edition um den Absatz auf dem deutschen Markt. Nach einem Rechtsstreit wurde Fränkel 1942 die Edition entzogen und der Zugang zu den Archiven verwehrt. Ähnlich erging es Fränkel bei der Arbeit mit und über den Dichter Carl Spitteler (1845-1924), den ersten Literaturnobelpreisträger der Schweiz. Seit 1908 verband die beiden eine enge Freundschaft, die mit einer produktiven Zusammenarbeit einherging. An Spittelers späteren Texten ebenso wie an seinem Erfolg einschliesslich der Verleihung des Literaturnobelpreises 1919 hatte Fränkel grossen Anteil. Spitteler sah ihn denn auch als Nachlassverwalter, Herausgeber seiner gesammelten Werke und Verfasser seiner Biografie vor. Doch – beraten durch führende Schweizer Germanisten – brachen Spittelers Töchter nach Spittelers Tod mit Fränkel. Die Eidgenossenschaft, die den Spitteler-Nachlass 1933 als ersten literarischen Nachlass überhaupt geschenkt erhielt, versuchte auf dem Prozessweg die Vertragsbedingungen der Töchter umzusetzen, Fränkel vom Material fern- und vom Plan einer Gesamtausgabe abzuhalten sowie die Nachlassteile Spittelers zusammenzufügen.
Dieses dunkle Kapitel der Schweizer Germanistik lässt sich mit dem neu zugänglichen, sehr umfangreichen Archivbestand, der im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern erschlossen wird, erhellen. Auch vor diesem historisch-politischen Hintergrund geht es in dem Projekt darum, Fränkels Konzept und Praxis der Philologie literaturwissenschaftlich und wissensgeschichtlich zu erforschen. In Zusammenarbeit mit dem SLA sowie dem Walter Benjamin Kolleg an der Universität Bern geht es darum, anhand des Nachlassbestandes Fränkels philologische Wissenschaftskonzeption und -praxis im historischen und politischen Kontext zu analysieren.
Methodisch geschieht dies mithilfe des Begriffs des „Kryptischen“. Zum einen leitet sich dieser daher, dass Spitteler bei Fränkel ein „Krypto-Archiv“ angelegt hatte, also (bedeutende) Teile des Spitteler-Nachlasses im Fränkel-Nachlass überliefert sind. Was im Archivwesen als terminus technicus für (verborgene) Archivbestände in Fremdnachlässen gilt, soll im Rahmen des Projekts heuristisch auf Fränkels Philologie allgemein ausgeweitet werden. Sie kann als „kryptisch“ gelten, weil sie sowohl von den philologischen Prinzipien als auch Arbeitstechniken auf ein transtextuelles Verständnis verborgener (biographischer wie werkästhetischer) Textbezüge angelegt ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist insbesondere auch Fränkels umfangreiche Bibliothek zu verstehen, die wesentlicher und integraler Teil des Nachlasses ist; in zahlreichen Büchern finden sich Einlagen (wie Briefe) und Lesespuren, die die Bibliothek zur „Genisa“ machen, zu einem Repositorium zweiter Ordnung und als solche mit zu erforschen ist. Der Begriff des Krytpischen hat zudem einen historisch-politischen Aspekt, indem sich Fränkel aus zeithistorisch-politischen Gründen zunehmend abseits der offiziellen Fachdisziplin bewegen musste, seine Arbeitsweise damit oftmals im Verborgenen stattfand, weshalb Fränkel selbst in Bezug auf seine Arbeit auch von einer „unterirdischen Wissenschaft“ sprach.
Zu dem Projekt gehört einerseits die Gesamterschliessung des Nachlasses, zum anderen auch dessen Erforschung u.a. in Form dreier Promotionen. Diese widmen sich folgenden drei Schwerpunkten von Fränkels „Krypto-Philologie“:
Teilprojekt A („Krypto-Philologie“) widmet sich auf wissenstheoretischer Ebene Fränkels Philologiebegriff und seiner historischen Verankerung, auf wissenssoziologischer Ebene der gesellschaftlichen und politischen Einbettung seiner philologischen Arbeit.
Teilprojekt B („Krypto-Bibliothek“) widmet sich Fränkels enzyklopädischen Praxis des Sammelns und Ordnens sowie der Errichtung von materiellen Wissensdepots in den Büchern seiner Bibliothek, die als Krypto-Archiv und Krypto-Atelier des Editionsphilologen fungiert.
Teilprojekt C („Krypto-Werk“) widmet sich Fränkels verdeckten, weil abseits von der zünftigen Germanistik organisierten Zusammenarbeit im Netzwerk um Carl Spitteler, die in einem Spannungsfeld zwischen der Zäsur des Ersten Weltkriegs und dem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess stattfand.
Diese Teilprojekte verbindet, dass sie in genauer, praxeologisch fundierter und reflektierter Arbeit mit einer Fülle an erstmals zugänglichem Archivmaterial der Schweizer Philologie in der Krise eine Tiefenschärfe verleihen sollen, welche die Forschung bislang nicht erreichen konnten. Zugleich analysieren sie auf einer strukturellen Makroebene zentrale Begriffe aus der Philologie und Literaturwissenschaft sowie deren epistemische Bedingungen und leisten damit einen Beitrag zur zeitgenössischen wie auch zu aktuellen theoretischen Reflexionen innerhalb der Literaturwissenschaften. Zusätzlich zu den Dissertationen soll daher eine Kollektiv-Monographie entstehen, die diesen Aspekt in den Vordergrund rückt und dem intellektuellen Horizont ebenso wie auch der langfristigen Wirkung Fränkels gerecht zu werden versucht.
Weitere Informationen zur Arbeit am Nachlass Jonas Fränkel:
externe Seite Übernahme des Nachlasses von Jonas Fränkel mit Kryptonachlass Carl Spittelers – 22.04.2021
externe Seite Online-Workshops zu Jonas Fränkel – April und Oktober 2021
externe Seite Wissenschaftlicher Workshop «Vor der Öffentlichkeit» – 5. & 6. Mai 2022
Mitwirkende am Projekt:
Andreas Kilcher (ETH)
externe Seite Irmgard Wirtz (SLA und WBK Uni Bern)
externe Seite Joanna Nowotny (SLA)
externe Seite Magnus Wieland (SLA)
externe Seite Lucas Gisi (SLA)
Felicitas Pfister (SLA/ETH)
Fabienne Suter (ETH)
Severin Lanfranconi (ETH)
externe Seite Malte Spitz (SLA/Uni Bern)
externe Seite Sandra Raguz (SLA/Uni Bern)
Fabienne Ziegler (ETH/SLA)
Natalie Reusser (ETH/SLA)
Workshops und Veranstaltung im Rahmen des Projekts
Workshop: Jonas Fränkel. Das Kryptische in der Philologie
19. April 2024 am Schweizerischen Literaturarchiv
Jonas Fränkel Workshop VI: Kryptophilologie in Gelehrtenbibliotheken
ETH Zürich, 22. November 2024