Verwissenschaftlichung und Ästhetisierung der ‚Esoterik‘ im langen 19. Jahrhundert
Zusammenfassung
Das Projekt will esoterische Paradigmen nicht länger als pseudo-religiöse Randerscheinungen, sondern als Ausprägung epistemischer Formen inmitten der Wissenskulturen der Moderne begreifen. Der historische Fokus liegt dabei auf dem „langen 19. Jahrhundert“, d. h. auf einem Zeitraum vom späten 18. bis ins frühe 20. Jh., den man – vorsichtig und allgemein – als Entfaltung der ‚Moderne’ in den Wissenschaften und Künsten bezeichnen kann. Diese Art der Kontextualisierung bedeutet, esoterische Paradigmen als variable Formen und Funktionen offener und sich verändernder Programme und Kulturen des Wissens zu verstehen. Selbstbeschreibungen wie ‚Modernisierung‘ oder ‚Säkularisierung‘ werden dadurch als Dynamiken eines mehrschichtigen und heterogenen historischen Dispositivs lesbar, dessen integraler Teil auch und gerade jene Paradigmen sind, die seit dem 19. Jh. ‚Esoterik‘ (ésotérisme, esotericism) oder ‚Okkultismus‘ (occultism) genannt werden.
Konkret geht es um die Emergenz von ‚Okkultismus‘ und ‚Esoterik‘ im Zuge von zwei Transformationen, die das 19. Jahrhundert kennzeichnen: einerseits die Verwissenschaftlichung, andererseits die Ästhetisierung des Wissens. Anhand dieser Leitbegriffe, die sowohl historische Prozesse als auch diskursive Strategien benennen, lassen sich zwei grundlegende Funktionalisierungen esoterischer Paradigmen kennzeichnen. Grundlegend sind erstens der eminente Wissensanspruch und davon ausgehend die besonderen Anstrengungen zur Verwissenschaftlichung, beispielhaft im modernen Okkultismus. Zweitens partizipieren esoterische Paradigmen wesentlich an der Entwicklung neuer, teils avantgardistischer Kunstformen, wobei im Horizont neuer Techniken auch neue Schrift-, Bild- und Tonmedien zum Einsatz kommen, die den epistemologischen Anspruch der Konstruktion, Darstellung und Kommunikation des Okkulten teilen und verstärken.
Indem moderne Paradigmen der Esoterik in den Kontext der Wissens- und Kulturgeschichte des langen 19. Jh. gestellt werden, werden gängige Narrative der Modernisierung neu lesbar: Einerseits lösen sich (letztlich ahistorische) Dichotomien wie rational/irrational, säkular/religiös, wissenschaftlich/unwissenschaftlich, Glauben/Wissen, die „esoterisches“ Halbwissen von „harten“ Fakten abgrenzen sollen, in komplexeren historischen Konstellationen auf, was ein deutlich differenzierteres Bild von Modernisierung erlaubt. Andererseits erhellt sich die grundlegende Funktion esoterischer Paradigmen in wissenschaftlichen, ästhetischen und kulturellen Transformationsprozessen des 19. Jh.