Anfangen, Aufhören, Weitermachen:
Vom Geschichtenerzählen  

Habilitationsprojekt von Dr. Christian Jany

In meiner Habilitation kehre ich zurück zu der alten Frage, was Geschichten inhaltlich auszeichnet und wie sie formal erzählt werden. Gegen die pauschalisierende Tendenz der Narratologie, das Erzählen im abstrakten Singular zu fassen und ihm den nicht minder uniformen Gehalt «Geschichte» (story, Fabel, histoire usw.) einzulegen, setze ich ein weniger pauschales Konzept, und zwar dieses: Geschichten sind je spezifische Verkettungen von Anfang, Mitte und Ende, wobei die aus ihrer Verkettung entstehende Einheit aber keine in sich ruhende Ganzheit, auch keine bloß lineare Abfolge, sondern vielmehr ein Ineinanderwirken an sich diskreter Operationen bezeichnet. Jene Operationen werden erzählerisch vollzogen und heißen – terminologisch folgerichtig – «Anfangen», «Aufhören» und «Vermitteln» bzw. «Weitermachen». Dass es sich um Verben oder besser gesagt Zeitworte handelt, ist dabei der springende Punkt. Denn Geschichten werden, indem sie erzählt werden, zu Verlaufs- und Vollzugsformen der Zeit und sie sind, indem sie schriftlich verobjektiviert vorliegen, gleichsam Zeitspeicher. Mein wesentlicher Ansatz- und Einsatzpunkt ist also, den Begriff der Geschichte einerseits zu verzeitlichen und ihn andererseits zu pluralisieren.

Dieser Ansatz hat Vorbilder: Marcel Proust zum Beispiel schrieb einen siebenbändigen Roman über den Zusammenhang von Zeit und Erzählung; Paul Ricoeur hat ihre Wechselwirkung dann in drei bahnbrechenden Bänden theoretisch beleuchtet. Und auch in jüngster Zeit war wieder öfter zu hören, man solle «zur Zeit als Fokus und Horizont all unseres Denkens» (David Wood und Mark Currie) zurückzukehren, so geschehen in der Literaturwissenschaft, wo man inzwischen vermehrt dazu übergeht, das Zusammenspiel von Zeit und Darstellung zu bedenken, etwa im Zeichen einer «ästhetischen Eigenzeit». Zuerst und zuletzt aber geht der Ansatz, Geschichten als ein Zusammenspiel von Anfangen, Aufhören und Weitermachen zu begreifen, auf Aristoteles' Poetik zurück, wo er, von ein paar spröden formallogischen Angaben abgesehen, aber kaum erläutert und im Übrigen teleologisch aufgeladen wird.

Wichtiger als der Nachweis von Vorbildern sind aber zweifellos die Konsequenzen, die sich aus dem gewählten Ansatz ergeben. Derer sehe ich zwei, zwei Arbeitshypothesen, die in der Narratologie noch nicht konsequent erprobt wurden:

(1) Es kann keine allgemeine Theorie des Erzählens geben, sondern nur vielfältige Geschichtskonstruktionen, bestenfalls eine Typologie derselben.

(2) Die literarische Gattung und auch Qualität einer Geschichte hängt entscheidend davon ab, wie, woher, womit und wozu jeweils angefangen, aufgehört und weitergemacht wird.

Da die beiden Hypothesen auf die jeweilige Spezifik des erzählerischen Anfangens, Aufhörens und Weitermachens abheben, erfordert ihre Erprobung vor allem praktische Explikation. Die Vielgestaltigkeit des (literarischen) Erzählens ist an verschiedenartigen Geschichten aufzuweisen und aus ihnen exemplarisch zu entwickeln. Dabei ein möglichst breites Spektrum abzudecken, ohne sich im Material zu verlieren, ist die wesentliche Herausforderung der Arbeit.

Die Geschichten, die ich so angehen möchte, umfassen schwerpunktmäßig Werke von Goethe, Novalis und Richard Wagner sowie Texte von Flaubert, Melville, Kafka, Proust, Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Italo Calvino und Julian Barnes. Hinzu kommen noch Schöpfungs- und Weltentstehungsmythen sowie alte und neue Apokalypsen. Theoretisch stützen sich meine Lektüren u.a. auf Fichte, Hegel, Paul Ricoeur, Hayden White und selbstverständlich auch auf neuere Beiträge zur Literatur- und Erzähltheorie (Greg Currie, Albrecht Koschorke, Guido Mazzoni, Andrea Polaschegg, Brian Richardson, Richard Walsh).

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