Unfall als Form
Disserationsprojekt von Sebastien Fanzun
Das Projekt versteht sich als kultur-, insbesondere literaturwissenschaftlicher Beitrag zur Aufarbeitung der Automobilkultur des 20. Jahrhunderts unter dem Gesichtspunkt des Autounfalls. Der automobilistische Individualverkehr stellt eine beispiellose Erfolgsgeschichte dar, die umso erstaunlicher wird, wenn man sich die enormen negativen Begleiterscheinungen vor Augen führt: Von ökologischen Problematiken abgesehen, ist hier vor allem das Phänomen des Autounfalls zu nennen. Im Projekt sollen nun Quellen aus dem Zeitraum der allmählichen Genese der Automobilkultur, also des frühen 20. Jahrhunderts, analysiert werden. In besonderem Fokus stehen dabei textliche Behandlungen des Autounfalls. Ziel ist, zu zeigen, wie sich früh zwei grundlegende Tendenzen in der Behandlung des Autounfalls herausstellen: Eine erste, die im Zuge der Verschaltung von Automobilistik mit einer Ideologie des liberalistisch-bürgerlich konzipierten, kapitalistisch beförderten Individualismus den Unfall als ungutes „Kollateralereignis“ systematisch verdrängen, als völlig kontingente Panne inszenieren oder aber verschweigen muss; und eine zweite, die das Ereignis des Unfalls und seine Thematisierung gerade gegen jene Ideologie in Stellung bringt, indem sie aufzeigt, wie sehr das Unfallereignis paradoxerweise systematisch produziert wird und erst in seiner ideologischen Zurichtung zum Kontingenzmoment wird. Anhand des Unfalls, so demonstrieren diese Texte der zweiten Sorte damit, lässt sich gerade darstellen, wie die Deutung eines Ereignisses erst im Widerstreit entsteht, keinesfalls aber irgendwie natürlich gegeben ist. Das Ereignis des Autounfalls wird so zum Feld ideologischer Verhandlungen, in dem um jede Formulierung gerungen wird. Versicherungstexte, Tagebücher, Briefe, Erzählungen, medizinische Berichte, Gerichtsprotokolle, Gedichte, Manifeste und Zeitungsartikel sind nur einige der Gattungen, in denen der Autounfall verhandelt wird. Zentral ist dabei stets die Frage, ob es sich beim Unfallereignis um eines der Kontingenz oder um eines der Vorbestimmung handelt; anders formuliert, ob der Unfall eine unangenehme, kontingente Panne innerhalb einer Struktur oder eher eine notwendige Folge der Struktur darstellt. Von besonderem Interesse für das vorliegende Projekt ist damit schliesslich auch die Frage von Autounfall und Theorie, der mit Blick insbesondere auf den russischen Formalismus, aber auch auf Kybernetik und Systemtheorie nachgegangen werden soll.