Louis Ginzberg: Die Legenden der Juden

Erstmalige Edition der deutschen Urschrift von Louis Ginzbergs The Legends of the Jews
(Philadelphia, 1909-1938)

Aktuelle Bearbeiter: Joanna Nowotny, Andreas Kilcher

Einführung und Projektzusammenfassung

Louis Ginzbergs (1873-1953) zwischen 1909 und 1938 in sieben Bänden erschienene Sammlung The Legends of the Jews bildet einen Höhepunkt moderner jüdischer Erzählsammlung. Diese in der englischsprachigen Welt weit verbreitete Anthologie ist die umfassendste Sammlung traditioneller jüdischer Erzählliteratur (wie Midrasch, Aggada) in moderner europäischer Sprache. Sie enthält einen reichhaltigen Schatz außerbiblischen Erzählguts zu biblischen und bibelnahen Themenkomplexen, die hier in wenig bekannten, aber höchst kreativen Formen ausgemalt und weiterentwickelt wurden. Der Talmudgelehrte und langjährige Mitarbeiter und Leiter des Jewish Theological Seminary in New York, Louis Ginzberg, hat diese aus einer stupenden Vielzahl von jüdischen und teils auch außerjüdischen Quellen der nachbiblischen Zeit versammelt. Die Bedeutung dieses Werkes war von Beginn an unumstritten – auch im deutschen Sprachraum. Dies zeigt nicht nur die Korrespon­denz, die Louis Ginzberg mit vielen herausragenden Vertretern des deutschen Judentums und der deutschen Philologie, der Theologie, der Orientalistik hatte. Es wurden konkrete Anläufe unternommen, das Werk auf Deutsch und in Deutschland zu publizieren; prominentestes Beispiel ist die Anfrage Martin Bubers im September 1933, der eine deutsche Ausgabe im Schocken Verlag anstrebte.

Denn obwohl sie primär im englischsprachigen Raum bekannt sind, liegt den Legends des aus Kovno (damals Gouvernement Wilna) gebürtigen und in Heidelberg promovierten, 1899 nach New York eingewanderten Ginzberg ein deutschsprachiges Manuskript zugrunde. Dieses große Erzeugnis jahrzehntelanger Arbeit ist bisher unveröffentlicht, weil es unentdeckt blieb, aber auch, weil es von Anfang an als Basis für die amerikanische Ausgabe vorgesehen war. Zu diesem Zweck wurde es von Henrietta Szold, der Begründerin der amerikanischen zionistischen Frauenorganisation und späteren Leiterin der Kinder- und Jugendeinwanderung in Palästina, für die Jewish Publication Society (Philadelphia) bearbeitet, redigiert, übersetzt; später übernahm der Anthropologe Paul Radin Szolds Rolle. Die vorliegende Edition des deutschen Originalmanuskripts der Legenden hebt demgegenüber einen großen ungehobenen Schatz ans Licht: die Originalfassung von Ginzbergs so bedeutender moderner Gesamtedition der traditionellen jüdischen Erzählliteratur.

Die Edition ist in Printform und in digitaler Form erfolgt. Die Druckfassung präsentiert den Text des deutschen Manuskripts als Leseausgabe und beinhaltet Kommentarapparate sowie Register mit editorischen Erklärungen und weiterführenden Informationen. Da es sich um die erstmalige deutsche Veröffentlichung des Texts handelt, wurden mit Rücksicht auf die Lesbarkeit Korrekturen vorgenommen; ein ausführlicherer editorischer Bericht findet sich im Buch.

Louis Ginzberg: Legenden der Juden. Herausgegeben von Andreas Kilcher und Joanna Nowotny. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2021.

Die digitale Edition des Manuskripts soll einen Ausgangspunkt für Forschende und Interessierte bieten, die sich eingehender mit den heterogenen Textkorpora auseinandersetzen wollen. Ginzbergs Gelehrsamkeit und sein ‚diasporisches‘ Schreiben wird durch die Präsentation der Faksimiles und Umschriften in ganzer Tragweite deutlich. Dabei macht die digitale Edition nicht nur die Entstehung und Bearbeitung des Textes greifbar, sondern sie enthält auch einen wichtigen Teil von Ginzbergs Projekt, der aufgrund der spezifischen Manuskriptgestalt nicht in die gedruckte Leseausgabe aufgenommen werden konnte: die sehr umfangreichen Anmerkungen, die eine bedeutende wissenschaftliche Bereicherung darstellen und Ginzbergs außerordentliche Gelehrsamkeit dokumentieren. Die Printausgabe und die digitale Edition ergänzen sich damit wechselseitig: Während die gedruckte Leseausgabe den Inhalt dieser großen jüdische Erzählliteratur in Ginzbergs originaler Fassung einem breiten Publikum nahebringt und damit die labyrinthischen Wege und Formen nachbiblischer Neu- und Weitererzählung in großem Umfang vorlegt, bietet die digitale Edition Einblicke in die Schreibwerkstatt der Legenden und die Grundlage für weitere Forschung zu Ginzbergs monumentalem Projekt.

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert