Antizipation der Nostalgie. Das Kalkül der Verklärung in Sprache, Literatur und Mode

Dissertationsprojekt von Cédric Weidmann


In den letzten 100 Jahren hat sich die Nostalgie von der medizinischen Krankheitsdiagnose zu einer Kulturtechnik gewandelt. Statt Menschen können nun literarische Werke, Bauformen, Musikstile und Moden «nostalgisch» sein, wenn sie bestimmte Formen annehmen. Das Projekt untersucht, wie diese Formen zustande kommen und wie sie, anders als andere Formen, chronopolitische Positionen verhandeln können. Insbesondere in der Literatur, die sich laut Lessing auf das «Gebiet der Zeit» erstreckt, nimmt die Form der Nostalgie auch Einfluss auf die Operationen ihres Verstehens – so verändert sie etwa die linguistische Operation der Rekursion, was ihr den Vorwurf der Ansteckung eingebracht hat.
Dass Nostalgie zugleich mit Zukunft, Zukünftigkeit und Erwartung zusammenhängt, ist im Laufe des letzten Jahrhunderts zur Haupterrungenschaft, aber auch zu einem Allgemeinplatz der Nostalgieforschung geworden. Zum einen ist sie ein Symptom von (düsteren) Erwartungen über die Zukunft, zum anderen stellt Nostalgie gerade ein Instrument dar, mit dem Zukunft politisch gestaltet werden kann. Die Antizipation rückt eine dritte Zukünftigkeit in den Vordergrund. Ihr zufolge wäre Nostalgie etwas, was selber Zukunft hat, was immer wieder kommen wird und daher auch stets antizipiert worden ist, mit Konsequenzen für jede Gegenwart: Ein Leben wird gelebt im Hinblick auf eine spätere Verklärung, ein Foto geschossen für eine folgende Nostalgie, und womöglich «legt» die Sprache ihre Bedeutung nicht für das sofortige Verstehen, sondern mit Rücksicht auf eine nostalgische Umgestaltung diachroner Verläufe «an». Und dieser Aspekt ist eingedacht: Die Antizipation ist der Nostalgie inhärent und prägt sie vor. Mit dieser Verschachtelung von Vergangenheit und Zukunft nimmt die Antizipation der Nostalgie eine Schlüsselstellung in der kulturellen und gesellschaftlichen Herstellung von Zeit ein, und wird zum zentralen Aushandlungsort einer Chronopolitik.
Das Projekt gliedert sich in zwei Teile. Im ersten wird Nostalgie als Kulturtechnik erfasst, die über antizipierbare Eigenschaften oder Operationalisierungen verfügt: Nostalgie ist a) immer antizipiert, b) sich ihrer selbst bewusst, c) eine Pathologie der Form und d) ein ästhetischer Modus (Filter). Diese Eigenschaften lassen sich anhand literarischer und philosophischer Texte vom 18. bis zum 21. Jahrhundert vorführen. Der zweite Teil beschäftigt sich mit Inszenierungen von Antizipationen der Nostalgie, wie sie vor allem in jüngerer Zeit auftreten, in nostalgisch gebrochenen Science Fiction-Werken der Literatur (Leif Randt), des Films (Her), des Designs, der Architektur und der Musik (Vaporwave). Hier zeigt sich, dass Nostalgie keineswegs nur eine Aufwertung der Vergangenheit auf Kosten der Zukunft vornehmen muss, sondern dass sie mithilfe ihres Antizipationsvermögens – den im ersten Teil beschriebenen Eigenschaften – Zukünftigkeit erst herzustellen vermag.

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